Der Oppenheim-Skandal: Mit einem Dossier flog alles auf

Chronologie vom tiefen Fall des Marcus Held

Zwei Jahre hat’s gedauert: Im Februar 2017 machte ein anonymes Dossier schwere Vorwürfe gegen den Oppenheimer Stadtbürgermeister Marcus Held öffentlich – im Sommer 2017 nahm die Mainzer Staatsanwaltschaft erste Ermittlungen auf. Jetzt – wir haben Mitte 2019 – wurde offiziell Anklage erhoben: Der SPD-Bundestagsabgeordnete wird sich vor Gericht verantworten müssen. Der Oppenheim-Skandal: In einer Chronologie haben wir die wichtigsten Ereignisse zum Fall Marcus Held zusammengetragen. 

Februar 2017: Anonymes Dossier taucht auf

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Die erste Seite des Dossiers, mit dem der tiefe Fall des Marcus Held begann.

Ein anonymes Schreiben erreicht Behörden und Journalisten: Es enthält vertrauliche Dokumente aus der Verwaltung der Verbandsgemeinde Rhein-Selz, die beweisen sollen: Marcus Held hat als Stadtbürgermeister wiederholt rechtswidrig agiert hat, er betrieb Günstlingswirtschaft und verschwendete bei Grundstücksgeschäften viel Geld zu Lasten der Stadtkasse.

Der erste Satz in dem Dossier lautet: “Die folgende Darstellung ist keine politische Bewertung. Sie versucht vielmehr, Diensthandlungen und Verflechtungen von Marcus Held (im Folgenden: Held) in seiner Eigenschaft als Amtsträger offenzulegen. Der zu Tage tretende Sachverhalt ist strafrechtlich relevant. Die Dokumentation wurde den Staatsanwaltschaften Mainz und Koblenz (in deren Eigenschaft als Zentralstelle für Wirtschaftsstrafsache im Bezirk des OLG Koblenz) unter dem 9. Februar 2017 zugeleitet.”

Das Dossier umfasst mit Behörden-Dokumenten und Erklärtexten rund 50 Seiten. Die Identität des Whistleblowers ist, trotz intensiver kriminalpolizeilicher Ermittlungsarbeit, nicht bekannt geworden. Bis heute nicht.

März/April 2017: Lokalzeitung kämpft für Held

Die breite Öffentlichkeit bekommt von den Vorwürfen gegen Held so gut wie nichts mit: Die Lokalzeitung packt das Thema erst gar nicht an. Held, einst Mitarbeiter des Blatts, später Anzeigenkunde, wittert seine Chance: Er erklärt sich selbst zum Opfer krimineller Machenschaften. Und findet für diese bizarre Umkehrung der Faktenlage  tatsächlich Unterstützung:

Als erstes veröffentlicht die Allgemeine Zeitung (AZ) einen Bericht unter der Überschrift „Jemand will mich zerstören“. Der Redakteur schreibt, Held gehe “über diese Zeitung selbst an die Öffentlichkeit“,  er habe sich einen Anwalt genommen und „bereitet eine Strafanzeige wegen Verleumdung und falschen Verdächtigungen vor“.

Übers Anzeigenblättchen „Nibelungen-Kurier“ lässt Held sodann verbreiten, er habe den Whistleblower längst „enttarnt“: Das Dossier, so behauptet er, sei “ganz klar eine politische Attacke. Der Redakteur nickt beflissen und wirft den Dossier-Autoren in ziemlich verquaster Formulierung eine „unangemessene Art der Berichterstattung ohne die Reflektion der Vorwürfe auf ihren tatsächlichen Wahrheitsgehalt“ vor.

Die AZ setzt Tage später noch einen drauf: Marcus Held hatte angeblich ein Blatt Papier erhalten, auf dem in Großbuchstaben zu lesen war: „Trete von deinen politischen Ämtern zurück, um Schlimmeres zu verhüten (…) Denke an deine Familie und ändere Deinen Lebensstil“. Mit diesem Papier eilte der SPD-Politiker zu seinem AZ-Redakteur, und der gibt sich, ganz im Sinne Helds, richtig empört: Das sei ja ein Drohbrief! Gegen Marcus Held! Das sei nun wirklich ein „neuer negativer Höhepunkt einer anonymen Kampagne gegen den SPD-Politiker“.

Mai 2017: Eine kleine Gruppe, die mich hasst

Helds Verteidigungsstrategie steht: Nach der Zeitung erklärt auch der VG-Bürgermeister den Whistleblower für den wahren Übeltäter. Klaus Penzer erstattet Strafanzeige wegen Geheimnisverrats. „Hier hat jemand einen Riesenschaden angerichtet“, verbreitet Klaus Penzer via AZ.

Der Gau droht“, schreibt prompt Ulrich Gerecke. Der Oppenheimer AZ-Redaktionsleiter verkündet allen Ernstes: Sollte sich herausstellen, „dass sensible Daten aus der VG-Verwaltung herausgelangt oder gar gezielt verbreitet worden sind, dann wäre das mehr als nur ein Fall für den Staatsanwalt. Es wäre eine Katastrophe in Sachen Vertrauen in Politik und Behörden.“

Juni 2017: Der Oppenheim-Skandal im Internet

Die Webseite www.der-oppenheim-skandal.de erscheint. Hier werden die Vorwürfe gegen Marcus Held erstmals journalistisch aufbereitet und umfassend dokumentiert. Jetzt ist die Wahrheit auf den Tisch: Sämtliche Details aus dem Dossiers sind übers Internet öffentlich zugänglich.

Das Echo ist überwältigend: Der Webseite wird zum Stadtgespräch, der Oppenheim-Skandal ist das Top-Thema bis hoch zur Landesregierung. Tausendfach wird die Webseite aufgerufen.


Marcus Held reagiert. Er lässt eine SPD-Postille an alle Haushalte der Stadt verteilen, in der er sich selbst als Opfer einer bösärtigen Kampagne darstellt. “Angriff aus dem Hinterhalt” ist gleich die erste Geschichte überschrieben. Alle Vorwürfe seien falsch, “es ging von Anfang an offenbar vielmehr darum, Marcus Held als Vertreter der SPD und als Stadtbürgermeister sowie in seiner Funktion als Mitglied des Deutschen Bundestages persönlich wirksam zu schädigen.”

Wenig später nimmt er in einer Sitzung des Stadtrates Stellung zu den Vorwürfen, allerdings hinter verschlossenen Türen. Die Zeitungsleser erfahren nur Bruchstücke, doch so sollte es nicht länger bleiben:

Auf der Webseite zum Oppenheim-Skandal wird zusätzlich ein Blog eingerichtet: In den folgenden Monaten wird dort regelmäßig über den Fall Marcus Held berichtet. Das Interesse der Leser wächst von Tag zu Tag, nach anfänglicher Zurückhaltung melden sich die ersten Oppenheimer zu Wort, schreiben Kommentare, nehmen Stellung, veröffentlichen ihre Meinung.

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Erste Seite aus der Held-Mitteilung an alle Oppenheimer: Rüde ging er die Widersacher an – und stellte sich als Opfer und Unschuldslamm dar.

Juli 2017: Dem Menschen Marcus Held in die Augen sehen

Der Rechnungshof hat eine Sonderprüfung in der Verwaltung der Verbandsgemeinde begonnen. Jetzt schaltet sich auch die Staatsanwaltschaft Mainz ein: Sie beantragt in Berlin die Aufhebung der Immunität Helds und leitet danach erste Ermittlungsverfahren gegen den Bundestagsabgeordneten ein.

Marcus Held weist weiterhin alle Vorwürfe zurück. In der Kuppel des Berliner Reichstags hält er vor laufender Kamera eine Rede und verbreitet das Video über Facebook. Er sagt darin: „Dass so ein Journalist jetzt in Oppenheim aufgetaucht ist die letzten Monate, offenbar bezahlt und hier eine Homepage noch installiert hat, das ist natürlich der Gipfel des Ganzen und zeigt, dass es eine klare Inszenierung ist. Insofern nicht alles glauben, sondern einfach dem Politiker Marcus Held, dem Menschen Marcus Held in die Augen schauen. Ich kann damit ganz offen umgehen.”

August 2017: Berlin reagiert auf Oppenheim-Skandal-Blog

Marcus Held war lange Jahre in Oppenheim allgegenwärtig – und wenn’s nur auf dem großen Poster an einem roten Transporter war, mit dem er sich nicht nur zu Wahlkampfzeiten blicken ließ.

Auf der Webseite zum Oppenheim-Skandal wird aufgedeckt, dass Marcus Held mit ausgesuchten Freunden eine Tourismus GmbH gegründet hat, an der die Stadt nur eine Minderheit besitzt. Diese GmbH kassiert sämtliche Eintrittsgelder aus dem städtischen Kellerlabyrinth-System, sie hat damit städtisches Vermögen teilprivatisiert, ohne Zustimmung des Stadtrates, ohne jede Vertragsgrundlage. Helds Stellvertreter im Rathaus, der Beigeordnete Hansjürgen Bodderas, agiert als Geschäftsführer mit Top-Gehalt. 

Als nächstes wird auf der Webseite zum Oppenheim-Skandal enthüllt, dass die Kosten beim Gradinger-Abbruch regelrecht explodiert sind. Marcus Held hatte mal versprochen, dass auf dem Grundstück des ehemaligen Möbellagers preisgünstige Mietwohnungen entstehen sollen. Jetzt erfahren die Oppenheimer über das Internet die ganze Wahrheit: „Angesichts der Kostenexplosion beim Abriss drängt sich natürlich die Frage auf, ob der geplante Neubau wirtschaftlich überhaupt noch vernünftig realisierbar ist.“

Heute wissen wir: Das Gradinger-Projekt ist längst tot. Die lokale Wohnungsbaugesellschaft HGO, die jahrelang von Held geführt wurde, ging daran zugrunde. Die von Held versprochenen Mietwohnungen zu sozialen Preisen wird es niemals geben, im Gegenteil: Nach der HGO-Insolvenz hat die Muttergesellschaft GWG die Mieten in ihren Häusern teils drastisch erhöht.

Der Oppenheim-Skandal-Blog wird auch in Berlin gelesen: Norbert Lammert, von Marcus Held zum Oppenheimer Weinritter auserkoren, sagt seine geplante Oppenheim-Reise kurzfristig ab. Der angesehene CDU-Bundestagspräsident will angesichts immer neuer Enthüllungen offensichtlich nicht in der Nähe des Oppenheimer Skandalpolitikers gesehen werden.

September 2017: Held & die Drahtzieher

Auf der Webseite wird aufgedeckt, dass dem von Marcus Held initiierten Verein „Oppenheim bewegt“ (damaliger Vorsitzender: Held-Freund Markus Appelmann) 20.000 Euro aus der Ehrenamtsförderung des Kreises bewilligt worden waren. Angeblich sollte am Bahnhof ein Vereinsraum hergerichtet werden. Das war nicht geschehen, Geld aus der Steuerkasse war trotzdem geflossen.

Bei der Bundestagswahl strafen die Wähler Held ab: Der SPD-Politiker erleidet deutliche Stimmenverluste. Held zieht gleichwohl wieder in den Bundestag ein: Die SPD hatte ihm einen sicheren Platz auf der Landesliste gegeben.

Oktober 2017: Wanzen-Suche in der VG-Verwaltung

Panik in der VG-Verwaltung: Weil der Oppenheim-Skandal-Blog immer wieder detailliert über Vorgänge in der VG-Verwaltung informiert ist, vermutet Bürgermeister Klaus Penzer, dass seine Behörde abgehört wird. Ein Polizei-Experte aus Mainz muss anrücken und nach Wanzen suchen. Er findet nichts.

November 2017: Razzia im Rathaus

Marcus Held und der VG-Verwaltung liegt ein erster Entwurf des Berichts des Landesrechnungshofes vor. Details werden der Lokalzeitung gesteckt, es sind nur Randnotizen, aber prompt schreibt die Zeitung, der Rechnungshof habe „jede Büroklammer im Rathaus einzeln untersucht“. Das soll abwertend klingen und lässt Rückschlüsse auf den Informanten zu: Der benutzt die Zeitung, um Stimmung gegen den Landesrechnungshof zu machen.

Die Staatsanwaltschaft teilt mit, dass sie Räume im Rathaus Oppenheim und auch ein Steuerberatungsbüro durchsucht hat.

Dezember 2017: Adventskalender und Kirchenvideo

Szene aus dem Weihnachtsvideo, das Held ohne Erlaubnis in der Katharinenkirche drehte.

Der Landesrechnungshof (LRH) veröffentlicht seinen Bericht. Auf mehr als 100 Seiten werden der Stadt und ihrem Bürgermeister eine ganz miese Haushaltsführung bescheinigt.

Auf der Webseite zum Oppenheim-Skandal wird der LRH-Bericht als Adventskalender veröffentlicht. Jeden Tag öffnet sich ein Türchen, hinter dem sich ein Artikel mit neuen Details findet: von Dienstwagen, die sich Held wie auch VG-Bürgermeister Penzer gönnten, deren private Nutzung sie aber nicht bezahlten. Von überdimensionierten Weinflaschen-Lager im Oppenheimer Rathaus, von zu teuren Festen und Ehrengaben, von überzogenen Ausgaben für überflüssiges Personal, von rechtswidrigen Geschäften zu Lasten der Stadtkasse usw. usf.

Der Adventskalender wird hunderttausendfach aufgerufen. Held reagiert noch einmal mit einem Video, diesmal dreht er es im Altarraum der Katharinenkirche. Es ist ein schmieriger Auftritt, in dem er vorgibt, die Menschen zur Versöhnung aufrufen zu wollen. Die Pastorin der Katharinenkirche sagt später, sie fühle sich vom Stadtbürgermeister brüskiert und beleidigt, „weil er die Kirche benutzt hat, weil er damit übergriffig geworden ist, auch weil jetzt viele Leute glauben, ich hätte das zugelassen, weil ich sein Parteigänger sei“.

Januar 2018: Der Aufstand der Bürger

Ein Bild für die Stadtchronik: Mit Montagsdemos protestierten hunderte Oppenheimer wochenlang gegen Marcus Held.

Oppenheim erhebt sich: Bürger tun sich zusammen und laden zu einem alternativen Neujahrsempfang ein – als „Zeichen wider städtischer Verschwendungsrituale“. Er findet zeitgleich mit dem offiziellen Neujahrsempfang der Stadtführung statt, der von Marcus Held allerdings seit Jahren wie eine Polit-Veranstaltung seiner lokalen SPD inszeniert wird.

Winzer Axel Dahlem ruft zu Montags-Demonstrationen auf: „Held hat der Stadt genug Schaden zugefügt! Er muss endlich zurücktreten.“ Hunderte Bürger folgen: Wiederholt protestieren sie selbst bei Eiseskälte gegen ihren eigenen Stadtbürgermeister.

Jetzt bezieht auch der SWR klare Position, Redakteur Markus Vollant kommentiert: “Die ganze Affäre stinkt. Egal an welcher Stelle man seine Nase reinhält – überall riecht es, und es riecht nicht gut. (…) Was da auch immer gelaufen ist im Rathaus oder auch nur bei einem engeren Kreis politisch Verantwortlicher in Oppenheim, jetzt muss Schluss sein, auch mit den politischen Spielchen im Stadtrat.“

In der lokalen und regionalen SPD wagen sich die ersten Held-Kritiker aus der Deckung. Der frühere Landtagsabgeordnete Thomas Stritter veröffentlicht einen Brief, in dem es heißt, er schäme sich für die Oppenheimer Vorgänge.

Noch einmal meldet sich die Staatsanwaltschaft in Mainz: Die Ermittlungen gegen Held seien deutlich ausgeweitet worden. Es geht um weitere Fälle von Untreue, außerdem wird dem Verdacht der Bestechlichkeit nachgegangen.

Auch Klaus Penzer, der Bürgermeister der Verbandsgemeinde, ist in das Visier der Strafverfolger geraten: Die Mainzer Staatsanwaltschaft ermittelt gegen ihn. (Die Ermittlungen wurden im März 2019 eingestellt: Für die unentgeltliche private Nutzung seines Dienstwagens muss Penzer 6500 Euro zahlen – zzgl. Schadensersatz.)

Ende Januar teilt Held mit, er sei krank. 

Februar 2018: Dreiste Abzocke bei Immobilien-Deals

Der Oppenheim-Skandal-Blog deckte auf: Held hatte ein unmoralisches Immobiliengeschäft getätigt. Hier ein Auszug aus der Grundbuchakte (zum Vergrößern anklicken).

Unterlagen aus dem Grundbuchamt, aus denen der Oppenheim-Skandal-Blog zitiert, decken auf, wie der Stadtbürgermeister in die eigene Tasche gewirtschaftet hat. „Marcus Held: Fette Gewinne bei zwei Immobilien-Deals“lautet der Artikel am 26. Februar. Held hatte in einem Gewerbegebiet ein Grundstück samt Immobilie für 367.000 Euro gekauft und wenig später an das Evangelische Diakoniewerk Zoar weiterverkauft – mit rund 400.000 Euro Gewinn. Nahezu zeitgleich hatte er bei einem schnellen Immobiliengeschäft in der Vorstadt knapp 20.000 eingesackt. 

März 2018: Held tritt zurück

Nur Tage nach Aufdeckung der Immobiliengeschäfte tritt Marcus Held als Stadtbürgermeister zurück. Zugleich legt er alle kommunalen Ämter in Oppenheim nieder. Das SPD-Mandat im Deutschen Bundestag aber behält er: Es sichert ihm ein monatliches Einkommen von rund 10.000 Euro. An Sitzungen des Bundestages nimmt er nicht mehr teil. 

Die Mainzer Staatsanwaltschaft weitet ihre Ermittlungen noch einmal aus. Verdacht der Untreue, der Vorteilsannahme und der Bestechlichkeit – und jetzt auch noch “Verstöße gegen das Parteiengesetz”: Im Zusammenhang mit Grundstücksgeschäften und Aufträgen an Unternehmen sollen Spenden an die SPD geflossen sein.

Die Webseite zum Oppenheim-Skandal meldet über eine Million Seitenaufrufe. Noch heute wird die Seite jeden Monat mehrere tausend Mal aufgerufen, inzwischen wurden über 110.000 Besucher registriert, die Zahl der Seitenaufrufe liegt derzeit bei knapp 1,3 Millionen.

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