Marcus Held, sein Rücktritt und die Folgen
„Er ist weg!“ Das war ein geflügeltes Wort in Oppenheim vor genau einem Jahr. Es wurde unter vorgehaltener Hand getuschelt und megaphonverstärkt auf dem Marktplatz ausgerufen, ungläubig staunend oder ängstlich zweifelnd als Frage formuliert und erleichtert oder mit Stolz geschwellter Brust abgelassen, freudentrunken oder triumphierend ausgerufen und verzweifelt oder ängstlich gestöhnt:
Marcus Held, der SPD-Bundestagsabgeordnete und langjährige Stadtbürgermeister, hatte am späten Nachmittag des 28. Februar 2018 alle seine lokalen Ämter niedergelegt.
Eine ganze Reihe von Premieren hatte Oppenheim in den Wochen und Monaten davor erlebt.
Erstmals hatte ein Eingeweihter als Whistleblower seine Kenntnisse von fragwürdigen Abläufen und Auffälligkeiten, merkwürdigen Grundstücksgeschäften, einseitigen Begünstigungen und offenkundigen Kompetenzüberschreitungen in Stadt und Verbandsgemeinde an die Öffentlichkeit zu bringen gewagt.
Erstmals hatte mit dem Landesrechnungshof eine unabhängige Kontrollinstanz dem Bürgermeister der Stadt rechtswidriges, verschwenderisches und willkürliches Handeln nachgewiesen und in einer umfangreichen Dokumentation veröffentlicht.
Erstmals war eine breite Bürgerfront aus einer mutigen Einzelinitiative (Axel Dahlem) entstanden, die sich mit zunehmender Beteiligung Montag für Montag auf dem Marktplatz formierte und die Rückkehr zu politischem Anstand, Rechtsstaatlichkeit, Transparenz und Disziplin im Rathaus forderte.
Erstmals war ein ekeliger Morast aus Vetternwirtschaft und Vorteilsnahme, Rechtsbeugung und Rechtsverletzung, Kompetenzüberschreitungen, Klüngelei und Kontrollversagen erkennbar und in seiner stadtweiten Dimension für jedermann erfassbar. Ein Morast, von dem mancher wusste und schwieg, darüber hinwegsah, als schicksalhaft hinnahm oder resigniert als politische Entartung abhakte, wurde ausführlich dokumentiert (www.der-oppenheim-skandal.de).
Ein charismatischer Volkstribun, ein Bürgermeister mit dem Image des unermüdlichen Machers, des geschickten Managers, des selbstlosen Anführers und des allgegenwärtigen Kümmerers war entlarvt worden als selbstsüchtiger Egomane, als geltungsbedürftiger Karrierist, als gewiefter Strippenzieher, als eiskalter Nutznießer großzügiger Rahmenbedingungen und nicht zuletzt als raffgieriger Ehrgeizling, der einzig und allein nach Aufstieg, Machtzuwachs, Einfluss und Vermögensbildung strebte.
Ein rotes Netzwerk durchzog die ganze Stadt
Alles das hatte es in Oppenheim vorher noch nicht gegeben. Bis dahin war die ehemals freie Reichsstadt eine Hochburg der Sozialdemokratie, eine rote Festung im überwiegend roten Rheinhessen gewesen.
Dass mit Norbert Becher in den 1980er Jahren einmal ein Christdemokrat Oppenheimer Bürgermeister gewesen war, konnte als Betriebsunfall betrachtet werden. 1989 war in soweit die Welt wieder in Ordnung, und die SPD übernahm wieder. Bürgermeister Erich Menger (1989 – 2004) konstruierte ein System, das eine Wiederholung des Betriebsunfalls verhindern sollte, ein rotes Netzwerk, das die ganze Stadt durchzog, das alle öffentlichen Einrichtungen und Institutionen, ganz gleich ob kulturell, sozial oder sportlich ausgerichtet in die Parteiraison einband.
Als Menger nach 15 Jahren als Bürgermeister erkannte, dass das Immobiliengeschäft durchaus lukrativ sein kann und daneben im Naheland sich ein spannendes politisches Betätigungsfeld bot, lockte er den ehrgeizigen Marcus Held nach Oppenheim. Der war damals Mitte zwanzig und hatte bis dahin als studentische Hilfskraft gejobbt.
Held erkannte sofort die Chance, gewann die Wahl gegen zwei Konkurrenten im ersten Wahlgang mit 54,4 Prozent und machte sich im Amt die von Menger geschaffenen Strukturen konsequent zu Nutzen. Er übernahm dessen lockere, kumpelhafte Art des Umgangs, dessen Geschick, den Eindruck zu erwecken, sich um alles und jeden persönlich zu kümmern und für alle Probleme eine Lösung zu finden. Dabei perfektionierte er das vorhandene Netzwerk, verschaffte denen, die ihm dienlich sein konnten, Vorteile, schloss taktische Bündnisse, zunächst mit der AL, später sogar mit der CDU, und bastelte dann an seiner Karriere, die mit dem Erreichen des Amtes des Bürgermeisters einer rheinhessischen Kleinstadt ja noch nicht auf ihrem Höhepunkt angekommen sein konnte.
Schrammen auf dem strahlenden Lack des Überfliegers
Der Karriereverlauf ist bekannt: Überlegene Wiederwahl zum Oppenheimer Bürgermeister 2009 und 2014, Nachfolge von Klaus Hagemann als SPD-Bundestagskandidat im Wahlkreis 206, knapper Einzug in den Bundestag über die SPD-Landesliste 2013. Bei der Landesvertreterversammlung der SPD für die Bundestagswahl 2017 setzt er sich gegen Carsten Kühl durch und platziert sich auf Rang 4 der Landesliste, der ihm sein Bundestagsmandat bis 2021 sichert.
Erste Schrammen auf dem strahlenden Lack des Überfliegers waren 2013 der seit 1949 erstmalige und 2017 der wiederholte Verlust des Direktmandats im Wahlkreis an den bis dahin weitgehend unbekannten CDU-Mann Jan Metzler.
Das Wahlergebnis vom 24. September 2017 war für Held überaus bitter, aber schon zu diesem Zeitpunkt hatte er ganz andere Sorgen. Da hatte nämlich der damalige Bundestagspräsident Norbert Lammert nicht nur bereits die ihm von Held angetragene Weinritterehre abgelehnt, sondern humorlos dessen Abgeordnetenimmunität aufgehoben, woraufhin die Staatsanwaltschaft Mainz konkrete Ermittlungen gegen Held aufnahm.
Ab diesem Moment war der strahlende Held nur noch eine tragische Figur. Ab da halfen ihm weder politische Freunde und Weggefährten, wie etwa der langjährige Landrat Claus Schick, noch die Absicherungsmechanismen der politischen und gesellschaftlichen Netzwerke. Schicks Entgleisung beim Neujahrsempfang der Stadt im Januar 2018, als er erste zarte Anfänge von kritischem Journalismus in der AZ-Landkrone als das Schüren von Pogromstimmung bezeichnete, fielen Held letztlich schmerzhaft auf die Füße, weil dieser damit den Rest von Sympathie und deswegen geübter Zurückhaltung bei der Presse verlor. Hatte die Zeitung wenige Wochen zuvor Helds Verteidigungsstrategie („Man will mich zerstören!“) noch willfährig mitgetragen, so spielte ab da der Bürgerprotest eine wichtigere Rolle in der Darstellung als Helds Versuch, in eine Opferrolle zu schlüpfen.
Binnen weniger Wochen eskalierten die Ereignisse. Schwerwiegende Vorwürfe wie rechtswidrige Vorteilsgewährung, unbegründete Maklerprovisionen, Untreue, gar gewerbsmäßiger Betrug und Bestechlichkeit flogen Held in den Folgewochen nur so um die Ohren. Ende Februar 2018 war es dann soweit:
„Er ist weg!“, hieß es da in Oppenheim.
Held kündigte am 28. Februar die Niederlegung des Amtes als Bürgermeister und aller weiteren Ämter in Oppenheim zum 5. März 2018 an. Die rote Festung wurde geschleift. Er meldete sich bis auf weitere krank, behielt aber sein Bundestagsmandat. Freuen darf er sich, weil der Bundestag die Diäten der Abgeordneten und damit auch die des kranken Marcus Held erhöht hat: Von Juli dieses Jahres an sollen sie um drei Prozent auf 10.073,00 Euro im Monat plus Spesen steigen.
Mit den Diäten steigen natürlich auch die Pensionsansprüche. Nach acht Jahren Bundestag fließen Marcus Held allein aus dieser Quelle monatlich 2.014,72 Euro monatlich zu, ohne dass er dafür auch nur einen Cent Rentenversicherungsbeitrag bezahlt hätte. Soviel zum Thema Soziale Gerechtigkeit.
Dank Walter Jertz wurde Stunde Null nicht zum Start ins Chaos
Doch jetzt keine Neiddebatte. Viel wichtiger ist die Frage: Was waren und sind denn nun die Folgen des Held-Absturzes für Oppenheim?
Zunächst einmal war festzustellen, dass Oppenheim nicht in ein Loch fiel, obwohl mit Held ein Bürgermeister stürzte, der sein Amt wie ein absolutistischer Provinzfürst ausgeübt hatte. Er hatte bestimmt, er hatte entschieden, wo es lang ging, und niemand konnte oder wollte ihn davon abbringen.
Dass die Stunde Null nicht zum Start ins Chaos wurde, der damit hätte enden können, dass die Stadt unter Zwangsverwaltung gestellt worden wäre, ist vor allem Walter Jertz zu verdanken, der in diesem Moment Verantwortung übernahm und sich in den Dienst seiner Stadt stellte. Damit war eine ordnungsgemäße Verwaltungsführung gewährleistet, und Oppenheim konnte aus eigener Kraft und Selbstbestimmung sich auf dem Weg zurück zur Normalität machen.
Jertz’ beeindruckende Biographie, sein ruhiges, uneitles Auftreten und seine zurückhaltenden, sachlichen Aussagen vermittelten Glaubwürdigkeit und Vertrauen, was in dieser Situation das Allerwichtigste war. Ohne einen gerade krachend geplatzten Personenkult durch einen neuen ersetzen zu wollen: Ohne das Engagement von Walter Jertz hätte es nach dem Zusammenbruch des Held-Systems kaum eine Chance für einen erfolgversprechenden politischen Neuanfang in Oppenheim gegeben.
Die SPD im Stadtrat flog auseinander
Der Oppenheimer Stadtrat, das kommunale Parlament, die Vertretung der Oppenheimer Bürger war bei der Stunde Null zunächst dasselbe wie davor. 22 Stadträte, 12 von der SPD und je fünf von AL und CDU. Zunächst.
Nach der Stunde Null war hier nichts mehr so wie zuvor. Fast nichts. CDU und AL gaben sich konstruktiv und kooperativ. Die SPD flog auseinander. Rücktritte, Austritte, Spaltung, und kaum jemand konnte dem noch folgen.
Am Ende standen sich eine SPD-Fraktion mit zwei, später drei Mitgliedern und eine SPD-Neu mit vier Mitgliedern und eine fraktionslose ehemalige Fraktionsvorsitzende gegenüber. Die übrigen hatten ihr Mandat verlassen.
Die CDU-Fraktion blieb bei fünf Mitgliedern, bis ihr früherer Vorsitzender Helmuth Krethe von Bord ging und sich wohl der SPD-Fraktion anschloss. Aber so genau weiß man das nicht.
Die AL blieb konstant bei fünf. Wenn Tina Turner ihren Mad Max-Titelsong von 1985 „We Don’t Need Another Hero“ auf Deutsch singen würde, dann sängen die CDU- und AL-Stadträte sicher lauthals mit, die Genossen von SPD-Neu wahrscheinlich auch. Die Überreste-SPD mit den Politgrößen Sittig und Meidinger, verstärkt durch Charmebolzen Krethe, würde zusammen mit Stellplatz-Queen Stephanie Kloos im Quartett dagegen ansingen mit Bonnie Tylers Hit aus 1984: “I Need A Hero”. (Stephanie im weißen Kleid über dem Grand Canyon, und am Ende kommt der Held auf einem weißen Hengst geritten… – was für ein Bild!).
Das ist die aktuelle Konstellation im Oppenheimer Stadtrat, mit der Bürgermeister Jertz und seine Beigeordneten Rainer Ebling (Erster, AL), Susanne Pohl (Zweite, CDU) und Helmuth Krethe (Dritter, parteilos und ohne Geschäftsbereich) arbeiten müssen. Schwierig.
Hat die SPD wirklich alle Brücken zu Held abgebaut?
Aber am 26. Mai 2019 wird u.a. ein neuer Stadtrat für Oppenheim gewählt. Wird dann alles besser? Wird dann endgültig ein Schlussstrich unter das düstere Kapitel Held in der Oppenheimer Stadtgeschichte gezogen?
Wenn man sich die Truppen anschaut, die sich für den Wahlkampf und die Entscheidung an diesem Wahlsonntag rüsten, kommen Zweifel auf. Die Oppenheimer wahlberechtigten Bürger haben es in der Hand. Sie haben die Wahl, und sie sind in der Verantwortung. Jeder muss wissen, um was es geht. Dann sollte jeder ins Wahllokal gehen oder die Möglichkeit der Briefwahl nutzen und nach bestem Wissen und Gewissen abstimmen.
Es geht auch um den Bürgermeister. Bislang hat nur Walter Jertz seine Kandidatur angemeldet. Ein Gegenkandidat ist bislang nicht in Sicht.
Die SPD müsste eigentlich aus ihrem eigenen Selbstverständnis heraus als Partei, die über Jahrzehnte die Stadtpolitik dominierte, einen eigenen Kandidaten präsentieren. Einen neuen Stadtverbandsvorsitzenden hat sie ja, der will aber nicht, wie wir jetzt wissen. Willi Keitel will in der Oppenheimer SPD für einen Neuanfang stehen. Aber das Amt traut er sich nicht zu? Will er das Desaster nicht riskieren, für alle Zeit als der Loser dastehen? Von den bisherigen SPD-Stadträten ist keiner mehr auf Keitels Kandidatenliste, auch niemand von SPD-Neu(!).
Aber hat die SPD tatsächlich alle Brücken zu Held abgebrochen? Zweifel sind angebracht. Im Vorstand hat Keitel Stephanie Kloos und Maria Harutyunyan an seiner Seite. Beide zählen nach wie vor zu Helds Garde.
Die CDU unterstützt Jertz, die AL wohl auch. Bei beiden muss man sich das Personaltableau dennoch genau anschauen, wenn man ausschließen will, dass keine früheren Günstlinge des Systems Held dabei sind. CDU und AL haben schließlich beide ihre Unschuld verloren, als sie mit Held zeitweise koalierten. Die gerade veröffentlichte Kandidatenliste der CDU scheint schon mal runderneuert.
Jetzt sind die Wähler in der Verantwortung
Hinzu kommt eine neue Gruppierung mit dem Namen Wir für Oppenheim (WfO) mit dem ehemalige Sozialdemokraten Torsten Kram als Vorsitzenden. Der hat sich nach vielen Jahren von der SPD abgewandt, tritt mit WfO in Oppenheim an und auf der Liste der Grünen für den Verbandsgemeinderat, der am selben Tag neu gewählt wird. Deshalb darf man davon ausgehen, dass die Grünen in Oppenheim eher nicht antreten und der AL hier keine Konkurrenz machen, obwohl die Vorsitzende der VG-Grünen und auch eine Landtagsabgeordnete der Grünen in Oppenheim zu Hause sind. Egal.
Als Partei, die sich hinter Jertz stellt, hat sich auch die FDP zu erkennen gegeben. Ob die Liberalen in Oppenheim aber aus dem Schattendasein heraus kommen, muss man abwarten. Mit Stephanie Steichele-Guntrum haben sie immerhin eine dynamische Vorsitzende, von der man durchaus neue Impulse erwarten kann.
Eine Freie Liste wie in so vielen rheinhessischen Gemeinden gibt es in Oppenheim interessanterweise nicht, d.h. es gibt sie nur im Internet: Dahinter steht die FWG Rhein-Selz, vertreten durch Friedhelm Schmitt. Dafür aber zwei neue Gruppierungen mit allerdings altbekanntem Personal, also gewissermaßen alter Wein in neuen Schläuchen. Zum einen die Bürgerliste Oppenheim (BLO) mit Helmuth Krethe am Steuer, dem Wanderer zwischen den kommunalpolitischen Welten, der als CDU-Vorsitzender sein Schicksal einst mit dem von Marcus Held verknüpfte und dafür seine Seele verkaufte. Und jetzt der BLO-Job. Ob die Bürgerliste mehr als die vier Bürger vertreten wird, die unter diesem Label antreten, wird man sehen.
Zum anderen ist da noch AIFOUR, tatsächlich, der Aufbruch – Initiative für Oppenheim und Rhein-Selz. Vorsitzender Marc Sittig, einst Helds Mann für das Grobe und heute dessen ungeleuterter Nachlassverwalter. Stellvertreterin ist Carmen Seifert, die seit Monaten mit wenig geistreichen Beiträgen die sozialen Netzwerke bereichert. Wohl dem, der keinen Facebook-Account hat.
Sieben Parteien stellen sich also am 26. Mai zur Stadtratswahl. Wer einen endgültigen Schlussstrich unter die Ära Held setzen will, wer denen, die noch heute Heldenverehrung betreiben, deutlich machen will, dass sie in Oppenheim keine politische Zukunft haben, weiß, wo er sein Kreuz besser nicht macht.
Mit Kumulieren und Panaschieren kann der Wähler übrigens die Chancen von untadeligen Kandidaten gleich welcher Liste verbessern.
Die Oppenheimer haben es in der Hand.