Fall Marcus Held: Und das Gras wächst und wächst

Deutschland, Deutschland, über alles, über alles wächst mal Gras. Ist das Gras ein Stück gewachsen, frisst’s ein Schaf und sagt: Das war’s.“

Jürgen Dietz, Der Bote vom Bundestag (1941 – 2015)

„Rechtspolitik ist Gesellschaftspolitik. (…) Wir brauchen ein modernes Recht für eine moderne Gesellschaft. Mindestens genauso wichtig ist, dass unser Recht gegenüber jedermann durchgesetzt wird, dass derjenige, der Recht hat, auch zu seinem Recht kommt und dass wichtige Lebensbereiche nicht von rechtlichen Regeln ausgenommen sind. (…) Die besten Gesetze nützen nichts, wenn sie nicht ordentlich vollzogen werden.“

Heiko Maas, (damaliger) Bundesminister für Justiz
auf der Homepage des BMJV, 13.09.2017

Soweit der hohe theoretische Anspruch. Nun aber hier ein Beispiel aus der alltäglichen Praxis:

Kinder, wie die Zeit vergeht. Zwei Jahre ist es bereits her, dass in Oppenheim eine Protestwelle gegen den damaligen Bürgermeister Marcus Held sich aufzutürmen begann. Weder ein vernichtendes Zeugnis des Landesrechnungshofsnoch die Einleitung staatlicher Ermittlungen mit schwerwiegenden Anschuldigungen hatten Helds Machtposition in der ehemals freien Reichsstadt wanken lassen.

Das schaffte letztlich erst der Bürgerprotest, der sich an kalten Montagabenden mit zunehmender Heftigkeit auf dem Marktplatz entlud und dem Held kaum zwei Monate später nicht mehr widerstehen konnte. Als auch die AZ-Landskrone zögerlich ihre Zurückhaltung aufgab und endlich anfing, ihrer Rolle als medialer Wächter von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nachzukommen, was ihr den Vorwurf des ehemaligen Landrats Claus Schick eintrug, zu hetzen und „Pogromstimmung“ zu schüren, musste Held einsehen, dass er sich nicht mehr länger an der Stadtspitze halten konnte. Scheinbar einsichtig und konsequent trat er als Bürgermeister zurück und legte auch alle weiteren Ämter in Stadt und Verbandsgemeinde nieder.

Allerdings, und deshalb die Betonung auf scheinbar, blieb er weiterhin Bundestagsabgeordneter mit üppiger Versorgung, meldete sich aber bis auf weiteres krank. Held zog sich damit hinter die Kulissen der politischen Bühne zurück. Zu einem wie auch immer gearteten Fehlverhalten bekannte er sich nie. Statt dessen vermittelte er den Eindruck, er sei regelrecht weggemobbt worden („Jemand will mich zerstören“, AZ, 28.03.2017), und er habe sich dem Druck der Straße nur ergeben, um sich und seine Familie zu schützen („Mittlerweile hat Held Sorge um die Familie.“).

Ein Gebot des Respekts gegenüber Recht und Gesetz

Die Staatsanwaltschaft, das Wort sagt es, ist der Anwalt des Staates, der als Hüter von Recht und Gesetz Rechts- und Gesetzesverstöße feststellt, bewertet und die dafür Verantwortlichen zusammen mit den Organen der Strafverfolgungsbehörde ermittelt, ihr Schuld feststellt und die dafür erforderlichen Beweise und Indizien sammelt. Dass hier fachlich kompetent, sorgfältig, gründlich und umfassend gearbeitet wird, darf vorausgesetzt werden und erklärt in der Causa Held die lange Ermittlungsdauer.

Dass ein Landgericht aber nach fast einem halben Jahr noch nicht darüber entschieden hat, ob es die Klage der Staatsanwaltschaft überhaupt annimmt, kommt einer Geringschätzung, um nicht zu sagen Nichtachtung gleich. Dass die Gerichtssprecherin als Grund für die Verzögerung Arbeitsbelastung nennt, überzeugt nicht. Natürlich ist das Gericht unabhängig und keinen Anweisungen unterworfen, es ist aber ein Gebot des Respekts gegenüber Recht und Gesetz, eine durch den Staat erhobene und hinreichend begründete Klage umgehend anzunehmen und zur Verhandlung zu bringen, wenn nicht gravierende Mängel vorliegen. Über die Frage, ob die Einschätzung der Staatsanwaltschaft und damit die Vorwürfe gegen die beklagte Person zutreffend sind, entscheidet das Gericht im Urteil, nicht im Zuge der Annahme der Klage.

Wenn der Bundesjustizminister einfordert, dass „unser Recht gegenüber jedermann durchgesetzt wird“, kann niemand ernsthaft widersprechen, der unseren Rechtsstaat befürwortet. Gleichermaßen von Bedeutung ist aber auch, dass unser Recht zügig bzw. in einem angemessenen zeitlichen Rahmen durchgesetzt wird.

Wenn die Durchsetzung unseres Rechts gegenüber einer Person, der seitens des Staates schwere Verstöße gegen Recht und Gesetz vorgeworfen werden, verzögert wird und es bei der beklagten Person sich um eine politisch exponierte Person handelt, könnten bei Betrachtung von außen Zusammenhänge zwischen Vorgängen und Sachverhalten vermutet werden.

Die Verbreitung von Phrasen erzeugt Stimmungen

Im konkreten Fall zieht ein gestürzter Politiker seine Selbstrehabilitierungsstrategie durch, indem er auf das Kurzzeitgedächtnis und die Harmoniesehnsucht vieler Menschen setzt und sich als der alte Macher und Kümmerer inszeniert und inszenieren lässt, während die Anklageschrift in einem Eingangskorb des Landgerichts Staub ansetzt. In Oppenheim wird man inzwischen das Gefühl nicht mehr los, dass die Restauration der Macht des Heldlagers schon vorbereitet wird.

„Bei Held war alles besser“, hört man. „Bei Held waren die Theaterfestspiele glänzende Erfolgsevents.“ „Bei Held gab es beim Katharinenmarkt Besucherandrang.“ „Held hat Oppenheim voran gebracht.“ usw, usf. Mit der Verbreitung solcher Phrasen werden Stimmungen erzeugt und das Image des Geschassten aufpoliert.

Wenn dann erst nach Monaten doch Anklage erhoben und ein Strafverfahren eingeleitet wird, wird es neben den zahlreichen Befürwortern auch zahlreiche Heldsympathisanten geben, die eine Mitleidskampagne starten werden, die viele Unwissende anstecken wird. In Oppenheim wird dann das Bemühen von Bürgermeister Walter Jertz und den konstruktiv gesinnten politischen Kräften möglicherweise konterkariert, weil sich alte Gegensätze wieder zeigen, Gräben wieder aufreißen und das politische Klima wieder aufgeheizt wird.

Das könnte das Ergebnis der unerfreulichen juristischen Hängepartie sein. Eine ebenso zügige wie sorgfältige Prüfung der Klageschrift durch das Landgericht und eine ebenso zügige wie sorgfältige Durchführung des Verfahrens hätten das verhindert.

Wenn der beschriebene Vorgang kein bedauerlicher Einzelfall und nicht nur eine unerfreuliche Ausnahme in einem ansonsten reibungslos funktionierenden Rechtssystem ist, dann ist es kein Wunder, wenn unser Rechtsstaat unter einem anhaltend massiven Vertrauensverlust in der Bevölkerung leidet. Laut einer jüngeren Allensbach-Umfrage sind in Westdeutschland nur noch 56 Prozent der Bürger davon überzeugt, dass die deutschen Gerichte unabhängig urteilen. (www.welt.de, 24.01.2019).

Laut einer Civey-Umfrage haben 45 Prozent der Deutschen nur noch ein geringes oder sehr geringes Vertrauen in den Rechtsstaat (Focus-online, 01.01.2019). 2013 waren es immerhin nur 23 Prozent.

Das Verhältnis vieler Bürger zum Rechtsstaat ist dramatisch gestört

Kein Geringerer als Jens Gnisa, der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes stellte bereits 2017 eine Vortragsreihe unter den Titel „Erosion des Rechtsstaates“ und nannte sein im selben Jahr erschienenes Buch „Das Ende der Gerechtigkeit“. Im Interview sagte er u.a.: „Und die Leute verlieren das Vertrauen in den Rechtsstaat, wenn sie das Gefühl haben, dass er hilflos ist“ (www.lto.de, 16.08.2017).

Bewertungen, die eine nicht unerhebliche Dramatik bei der Analyse des gestörten Verhältnisses vieler Bürger zum Rechtsstaat erkennen lassen. In einer freiheitlichen Demokratie ist ein hohes Maß an Vertrauen gegenüber den staatlichen Gewalten und Institutionen von existenzieller Bedeutung. Dem anhaltenden Verlust an Zutrauen und Zustimmung gegenüber den politischen Gewalten Legislative (Parlamente) und Exekutive (Regierung) folgt nun offenbar ein wachsender Vertrauensverlust gegenüber der Judikative (Rechtsprechung). Damit bröckelt es bei den tragenden Säulen unseres demokratischen Staatswesens und unserer freiheitlichen Gesellschaftsordnung.

Eine im Januar 2019 veröffentlichte Studie der Bertelsmann-Stiftung („Schwindendes Vertrauen in Politik und Parteien“) hat die Gefahren des politischen Vertrauensverlust für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Demokratie insgesamt in erschreckender Klarheit herausgearbeitet. Wenn ein vergleichbarer Prozess im Verhältnis der Bürger zur Justiz abläuft, werden die Hinweise von Richtern und Staatsanwälten auf den Personalnotstand bei Strafverfolgungsbehörden und Gerichten („Arbeitsbelastung“, s.o.) nicht ausreichen, um die Erosion aufzuhalten. Derweil machen sich Radikale und Populisten die latente politische und zunehmende rechtliche Unzufriedenheit in der Bevölkerung zu Nutze, befeuern mit eingängigen Parolen den Vertrauensverlust, aus dem sie wiederum Zustimmung für ihre Politik der einfachen Lösungen saugen.

So wie die (Regierungs-) Politik gut daran tut, sich nicht im immer währenden Abwägen zu erschöpfen, sondern in zentralen Feldern und bei den drängendsten Problemen Kreativität, Handlungsfähigkeit und Führungsstärke unter Beweis zu stellen, so sollte sich die Justiz an dem eingangs zitierten Maßstab ihres obersten Dienstherrn orientieren und deutlich machen, dass unser Recht gegenüber jedermann durchgesetzt wird. Und zwar bevor das Gras so hoch gewachsen ist, dass es dem Unrecht dauerhaft Deckung bietet.

Der Demagoge und Blender Held schart wieder Anhänger um sich

Im konkreten Fall, also der Causa Held, ergibt sich daraus die Forderung, dem sich verbreitenden Eindruck entgegen zu wirken, dass wegen der exponierten Position des Beschuldigten schon im Vorfeld eines Prozesses Bedenken und Vorbehalte, Zweifel und Unsicherheiten sehr viel intensiver durchdacht werden als in alltäglichen Strafverfahren.

Marcus Held ist nicht anders, nicht mehr und nicht weniger, nicht besser und nicht schlechter als jedermann, dem gegenüber, so der Justizminister, unser Recht durchgesetzt wird. Obwohl die Vorwürfe schwer wiegen, obwohl die Beweislast, die schon aus dem Bericht des Landesrechnungshof heraus gelesen werden kann, erdrückend ist, kann sich der Beklagte, nachdem er eine längere Schamfrist im Hintergrund absolviert hat, heute unbeschwert in der Unschuldsvermutung sonnen. Die ist ihm zwar uneingeschränkt zuzubilligen, je größer aber die zeitliche Distanz zwischen mutmaßlichen Rechtsverstößen und deren juristischer Aufarbeitung wird, wirkt in der öffentlichen Meinung die normative Kraft des Faktischen.

Da wird dann aus der Vermutung allmählich Gewissheit, weil die allgemeine Erinnerung an das von der Prüfbehörde massiv gerügte und mehrfach als rechtswidrig betrachtete Geschehen nachlässt und Held sich schrittweise in die Normalität zurück schleicht, als wäre nichts passiert. Mit seinen berüchtigten Qualitäten als Demagoge und Blender wird er bald wieder Anhänger um sich scharen. Dann wird er versuchen, sich als missverstanden und als Opfer einer politischen Kampagne darzustellen, die von finsteren Kräften durchzogen wurde, um ihn zu zerstören.

Wenn das gelingt, steht das Gericht vor dem Problem, verhindern zu müssen, dass ein Opfer politischen Mobbings auch noch ein Justizopfer und damit doppelter Märtyrer wird. Mit einer zeitnahen Ansetzung und Durchführung des Verfahrens und der Findung eines klaren, unmissverständlichen Urteils hätte das schon im Ansatz verhindert werden können.

Im Fall einer Verurteilung hätten auch Helds Partei SPD und die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag eine Handhabe besessen, ihn auszuschließen und damit seine Hoffnung auf Rückkehr in Politgeschäft für alle Zeiten zu beenden. Das alles ist aber nicht geschehen.

Deshalb steht auf der Liste der guten Wünsche für 2020 an das Mainzer Landgericht, den Fall Held mit der Priorität zu bearbeiten, die ihm zukommt, damit der von vielen Demokraten und Streitern für eine politische Kultur mit Anstand und Rechtstreue in Oppenheim ersehnte Schlussstrich endlich und abschließend gezogen werden kann, bevor das Gras völlig darüber gewachsen ist.

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