Es ist eine spannende Frage, die AZ-Redakteurin Kirsten Strasser in der „Allgemeine Zeitung Mainz“ in dieser Woche aufgeworfen hat: Warum stoppte niemand Marcus Held?
Der Prozess am Landgericht Mainz gegen den früheren Stadtbürgermeister von Oppenheim und ehemaligen SPD-Bundestagsabgeordneten geht nach zwei Dutzend Verhandlungstagen zu Ende: Die Staatsanwaltschaft wirft ihm Untreue, Bestechlichkeit und Verstöße gegen das Parteiengesetz vor und fordert eine Haft- und Geldstrafe. Die Verteidigung plädierte auf Freispruch. An diesem Montag, 20. Dezember, soll ab 14 Uhr das Urteil gesprochen werden. Jetzt, da Marcus Held noch einmal öffentliche Aufmerksamkeit zuteil wird, tauchen aus dem Dunst des Vergessens und Verdrängens die Erinnerungen wieder auf. Und längst überfällige Fragen werden erneut gestellt:
Wie konnte es so weit kommen? Warum stoppte keiner Marcus Held?
Frau Strasser gibt in ihrem nahezu ganzseitigen AZ-Bericht vor, die Antwort zu kennen: Sie sieht die Schuld bei den diversen Behörden – bei der Verwaltung der Verbandsgemeinde, bei der Kommunalaufsicht des Kreises, bei der Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion des Landes.
Ihr Fazit: „Es war nichts anderes als ein Totalversagen“ – der Behörden, meint sie, natürlich.
Frau Strasser unterschlägt allerdings die wohl wichtigste Seilschaft des Ex-Politikers: Es war ihre eigene Zeitung, die den ungehinderten Aufstieg von Marcus Held möglich machte und ihn über Jahre hinweg absicherte. Was immer der Mann von sich gab – die „Allgemeine Zeitung Mainz“ verkündete es ohne den leisesten Ansatz kritischen Hinterfragens. Dass die vor Ort ansässigen Redakteure von seinen Machenschaften nie etwas mitbekommen haben wollen, erscheint kaum vorstellbar. Umso unerklärlicher war und ist bis heute, dass die AZ-Lokalredaktion über viele Jahre hinweg selbst eindeutigen Hinweisen nicht umgehend nachging.
Selbst als sich der Fall des rheinhessischen Polit-Stars abzuzeichnen begann, als sich die Vorwürfe verdichtet hatten und kaum noch ernsthafte Zweifel an seinem vielfach rechtswidrigen Handeln bestanden: Selbst da wich die AZ-Lokalredaktion nicht von der Seite „ihres“ Bürgermeisters. Die Zeitung verbreitete seine Unschuldsbeteuerungen, seine abstrusen Schuldzuweisungen und sogar seine wilden Racheschwüre gegen jedweden, der es wagen sollte, gegen ihn seine Stimme zu erheben.
Die „Allgemeine Zeitung“, das gehört zur bitteren Wahrheit der jüngsten Oppenheimer Geschichte dazu, hat mit dafür gesorgt, dass Held so lange in diversen Ämtern ungehindert agieren konnte. Und ausgerechnet diese Zeitung wirft heute nicht nur den Behörden ein Totalversagen vor: Sie brüstet sich sogar damit, die Wende in Oppenheim eingeleitet zu haben. Ihr sei es zu verdanken, dass Marcus Held gestoppt wurde.
Namentlich wird der frühere Leiter der Oppenheimer Lokalredaktion genannt: Ulrich Gerecke, so ist in dem Blatt zu lesen, habe den Fall Marcus Held „damals mit aufgedeckt“.
Die „Allgemeine Zeitung“ glorifiziert ihre eigene Rolle im Held-Skandal: Das ist Geschichtsklitterung der absonderlichen Art!
Es ist Zeit für einen ehrlichen Rückblick.
Mit Hilfe der AZ konnte sich Held als Opfer inszenieren
Die Schreibtische der AZ-Lokalredaktion „Landskrone“ standen damals nur wenige hundert Meter vom Rathaus entfernt. Im Frühjahr 2017 kam auch dort das als „Memorandum“ bezeichnete „Dossier“ an: Die bis heute unbekannten Autoren behaupteten darin, Held habe wiederholt rechtswidrig zum Nachteil der Stadt gehandelt. Den Unterlagen waren Kopien von internen behördlichen Dokumenten beigefügt, mit denen die Vorwürfe nachvollziehbar belegt wurden.
Leichter kann man’s Journalisten nicht machen. Die Oppenheimer AZ-Lokalredaktion aber berichtete über den sich abzeichnenden Polit-Skandal: mit keinem Wort.
Erst Wochen später, als die Gerüchteküche immer heißer brodelte, griff Ulrich Gerecke das Thema auf. Aber er recherchierte nicht. Er hinterfragte nicht. In den Berichten, die er und seine Kollegen in der Mainzer Zentrale veröffentlichten, wurde das Bild eines Bürgermeisters gezeichnet, dem mit der Veröffentlichung des Dossiers großes Unrecht angetan worden sei.
Held durfte sich mit der AZ als Opfer inszenieren. Beispielhafte Überschriften:
28. März 2017: „Jemand will mich zerstören“
8. April 2017: “Bürgermeister Marcus Held kämpft gegen anonyme Anschuldigungen“
8. Mai 2017: „Ich sehe da nach wie vor keinen Fehler“
10. Mai 2017: „Kleine Gruppe, die mich hasst“
Die Botschaft dieser Berichte war unverkennbar: Ein Skandal war nicht, was Held vorgeworfen wurde. Der eigentliche Skandal war, dass ihm Vorwürfe gemacht wurden.
„Der GAU droht“, überschrieb Ulrich Gerecke Ende April 2017 einen Kommentar. Zwar gebe es „Getöse und schlechte Schlagzeilen“ um Grundstücksgeschäfte des Bürgermeisters. Nun aber drohe „ein noch tieferer Tiefpunkt, ein veritabler GAU“: Es seien nämlich „sensible Daten aus der VG-Verwaltung herausgelangt oder gar gezielt verbreitet worden“. Das wäre nicht nur ein Fall für den Staatsanwalt: „Es wäre eine Katastrophe in Sachen Vertrauen in Politik und Behörden.“
Im Oktober des Jahres – auf dieser Webseite waren bereits weitere rechtswidrige Handlungen des Bürgermeisters aufgedeckt worden – spendierte die „Allgemeine Zeitung“ dem Bürgermeister eine halbe Zeitungsseite: Ausführlich durfte er seine Sicht zu den Vorwürfen darstellen. Er fabulierte von „Drahtziehern“, die gegen ihn arbeiten würden, und durfte zu Protokoll geben: „Das ist eine professionell organisierte, tief gehende persönliche und verletzende Kampagne gegen mich, gespeist von einem eindeutigen Vernichtungswillen.“
Der Zeitungsbericht wurde im Oppenheim-Skandal-Blog so kommentiert: „Der Redakteur gefiel sich als tumber Stichwortgeber, der Stadtbürgermeister durfte ihm nach Gusto Unwahres wie Unsinniges zu Protokoll geben, ohne Widerspruch oder Gegenrede fürchten zu müssen.“
AZ-Lokalredaktion hatte sich Held unterworfen
Der Inhalt des Dossiers wurde im Juni 2017 erstmals auf dieser Webseite veröffentlicht, hier wurden die Hintergründe der Vorwürfe ausführlich ausgeleuchtet und erläutert. Gleich einer der ersten Berichte befasste sich mit der unübersehbaren Nähe der AZ-Lokalredakteure zum Rathaus. Auszug aus dem Bericht „Fake News made in Oppenheim“:
„Angesichts der in dem Dossier aufgezeigten Verdachtsmomente gegen den Stadtbürgermeister, die mit zahlreichen Behördendokumenten untermauert werden, könnten die Verantwortlichen in Partei und Verbandsgemeinde wie auch in der Presse ja mal fragen: Was läuft da wirklich ab im Oppenheimer Rathaus? Was sind das für dubiose Verträge, die Marcus Held abzeichnet und die der Stadt viel Geld kosten?
Und auch: Was veranlasst einen Bundestagsabgeordneten der SPD, sich als Stadtbürgermeister dem schwerwiegenden Verdacht auszusetzen, dass er die Stadtkasse plündere?
Es sind Fragen, die einer Partei schmerzen. Aber die Antworten hätten vielleicht einen Heilungsprozess anstoßen können.
Allein, die Fragen werden nicht gestellt. Stattdessen konnte Marcus Held seine Gegenoffensive starten – mit Unterstützung der lokalen Medien.“
Wochen später, es war im Juni 2017, war die auffallend enge Beziehung zwischen Lokalzeitung und Rathauschef nochmals Thema im Oppenheim-Skandal-Blog. Auszug:
„Marcus Held und die lokale Presse, das scheint eine ganz besondere, nahezu innigliche Beziehung zu sein. Der heutige SPD-Bundestagsabgeordnete und Stadtbürgermeister jobbte von 1995 bis 2003 als freier Mitarbeiter bei der ,Wormser Zeitung‘ und der ,Allgemeinen Zeitung‘. Das schweißt zusammen, was eigentlich nicht zusammen gehört. In der Wissenschaft spricht man von mutualistischer Symbiose: wenn aus der Wechselbeziehung zwischen Lebewesen zweier Arten beide Partner Nutzen ziehen. Marcus kann seinen Namen kostenfrei promoten, das ist immer schön für einen Politiker. Die Zeitung kann ihre Seiten füllen, das macht’s bequem für die Redaktion. (…)
Der Mann wird von der Redaktion regelrecht hofiert. Zu nahezu jedem Thema wird er gefragt bzw. wird seine Wortmeldung veröffentlicht. Spötter haben die Ausgabe ,Landskrone‘ längst umgenannt in ,Allgemeine Helden-Zeitung‘. (…)
Das Archiv der ;Allgemeinen Zeitung‘ weist allein für die Zeit vom 1. bis 13. Juni insgesamt 25 Artikel aus, in denen Marcus Held erwähnt wird. Im Monat davor waren’s 54 Marcus-Held-Artikel. Das sind im Schnitt nahezu zwei Artikel pro Tag! Da eine Zeitung nicht jeden Tag erscheint, gibt’s ab und an natürlich eine Häufung. Rekord-Tag dieses Monats: Am 10. Juni wurde Marcus Held gleich in fünf Artikeln erwähnt!“
Die Lokalausgabe, so der Eindruck des unabhängigen Beobachters, hatte sich Marcus Held regelrecht unterworfen. Wenn er eine Pressemitteilung als Bürgermeister und/oder in eigener Sache veröffentlicht sehen wollte: Dann spurte die Redaktion. Texte und Bilder aus dem Rathaus wurden in der Regel unverändert abgedruckt, oftmals ohne Angabe der Quelle. Gerecke & Co. machten möglich, das Marcus Held seinen städtischen Pressesprecher wohlfeile Berichte über sich, den Bürgermeister, schreiben ließ, die dann wie redaktionelle Beiträge veröffentlicht wurden.
„Mit dieser Art von ,Journalismus‘ stabilisierte die Zeitung nicht nur konsequent die Machtposition des Stadtbürgermeisters. Sie betrog zugleich ihre eigenen Leser, denen sie die PR-Texte aus dem Rathaus als eigene journalistische Leistung unterjubelte“, hieß es dazu im Oppenheim-Skandal-Blog.
Heute schreibt Frau Strasser in der Zeitung: „Was in den Rathäusern in Oppenheim und der Verbandsgemeinde Rhein-Selz vor sich ging, war politisch und moralisch zumindest fragwürdig.“
Mit Blick auf das Verhalten ihrer eigenen Redaktion hätte Frau Strasser eigentlich schreiben müssen: „Was in den Rathäusern und auch in der AZ-Redaktion in Oppenheim vor sich ging, war politisch, moralisch und auch journalistisch äußerst fragwürdig.“
Helds Beziehungsgeflecht reichte bis in die Spitze der Zeitung
Mit Journalismus, geschweige kritischem, der die Geschehnisse auch im Lokalen wachsam begleiten und hinterfragen sollte, hatte die Arbeit der AZ-Redaktion nichts zu tun. Sie zeigte vielmehr vorauseilenden Gehorsam gegenüber einem Politiker. Wie das häufig so ist: ein freundliches Lob vom Bürgermeister, ein kumpelhaftes Schulterklopfen, eine Einladung zum Mittagessen – das Streben nach beifälliger Anerkennung führt oftmals zu opportunistischer Haltung in Zeitungsstuben.
Held verstand es meisterhaft, mit derlei Begehrlichkeiten zu jonglieren. Ausgehend von Oppenheim unterhielt er ein engmaschiges Beziehungsgeflecht weit über seine Stadt hinaus. Das anonyme Dossier deckte auf, dass er als Stadtbürgermeister regelmäßig Anzeigen in den Blättern des Mainzer Verlags schaltete, deren Sinnhaftigkeit sich nicht erkennen ließ. Der naheliegende Verdacht: Konnte er sich mit den aus Steuergeldern finanzierten Anzeigen von kritischer Berichterstattung freikaufen?
Auszug aus dem Bericht „Fake News made in Oppenheim“:
„Wer sollte sie auch stoppen, die Macher von Oppenheim? Etwa die so genannte ,vierte Gewalt im Staate‘, die Journalisten bei der lokalen Zeitung? Wohl kaum:
Marcus Held werden sehr gute Kontakte in die Redaktion der ,Allgemeinen Zeitung‚ nachgesagt, nicht von ungefähr: Er war ausweislich seines Lebenslaufs jahrelang als freier Mitarbeiter in der Redaktion tätig. Das verbindet.
In dem Dossier heißt es – und wird mit Rechnungskopien belegt –, dass die Stadt Oppenheim allein im letzten Jahr für weit mehr als 30.000 Euro Anzeigen in den Blättern des Rhein-Main-Verlags geschaltet habe, zu dem auch die „Allgemeine Zeitung“ gehört. Im darbenden Zeitungsgeschäft legte sich heutzutage kein Redakteur mehr mit einem solchen Kunden an, schon gar nicht, wenn dieser über exzellente Drähte bis in die oberste Redaktionsspitze verfügt.
Letztens erschien in der ,Allgemeinen Zeitung‘ der Artikel ,Weinbruderschaft Rheinhessen heißt acht neue Mitglied willkommen’. Danach gehört jetzt auch Marcus Held diesem exklusiven Netzwerk von Unternehmern, Mandatsträgern und sonstigen Multiplikatoren an.
In der Aufzählung der neuen Mitglieder tauchte zudem der Name Friedrich Roeingh auf. Also auch er, der Chefredakteur der ,Allgemeinen Zeitung‘, hat sich die schwarz-gelbe Krawatte der Bruderschaft umgebunden. Weinselige Nähe scheint ihm selbst in diesen brisanten Zeiten der lokalen GAUs und Erdbeben wichtiger zu sein als gesunde journalistische Distanz.“
Roeingh hat sich über diese Veröffentlichung massiv beschwert. Er schrieb, man hätte ihn vorab fragen müssen. Und überhaupt: „Meine Neumitgliedschaft in der Rheinhessischen Weinbruderschaft für eine zu große Nähe zu Herrn Held heranzuziehen, ist geradezu konstruiert.“
Nach Held zog auch die AZ von Oppenheim weg
Es ist nicht bekannt, dass der AZ-Chefredakteur in der Folge von seinen Mitarbeitern mehr Distanz zu den Entscheidern in Politik und mehr kritische Recherche verlangt hätte. Warum auch? Schon damals verklärte er die Arbeit seines Blattes: Im Sommer 2017 – wir erinnern uns: die AZ-Oppenheim stand trotz bekannt gewordener Vorwürfe stramm hinter Held – schrieb Roeingh an den Autor des Oppenheim-Skandal-Blogs: „Die Allgemeine Zeitung hat sich in der Causa Held keine journalistischen Versäumnisse zu schulden kommen lassen und sie hat auch keine Rücksichtnahme wem auch immer gegenüber geübt.“
Das Talent zur kritischen Selbstreflexion scheint nicht sonderlich ausgeprägt in der Mainzer Redaktion. Doch die Leser sind nicht dumm. Sie können engagierten Journalismus sehr wohl von billigen Fake News unterscheiden.
Die Redaktion „Landskrone“ wurde Anfang letzten Jahres geschlossen. Nicht wegen fortlaufender Falschberichterstattung, wohl eher, weil das Blatt kaum noch Leser in Oppenheim finden dürfte.
Die „Allgemeine Zeitung“ hat in der Region in den letzten Jahren ihre Bedeutung nahezu komplett eingebüßt. Die offiziell gemeldete Zahl der Abonnenten in der Großstadt Mainz und Umgebung – bis hin nach Oppenheim – zeigt Monat für Monat weiter nach unten. Sie lag im dritten Quartal dieses Jahres nur noch bei 44.260. Das sind satte 20 Prozent weniger als Anfang 2017, als der Held-Skandal begann. Der Verkauf im Einzelhandel brach sogar um fast 40 Prozent auf gerade noch 1000 Exemplare ein.
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