Ein Kreuzchen von außerordentlicher Tragweite

Am morgigen Sonntag, 3. Juni, wird in Oppenheim ein neuer Stadtbürgermeister gewählt. Einziger Kandidat ist Walter Jertz (73), der von einem überparteilichen Bündnis getragen wird. Der Oppenheimer Schriftsteller Frieder Zimmermann schrieb aus Anlass der Wahl einen Gastbeitrag für diese Webseite.

Es ist nur ein einziges Kreuzchen, das an diesem Wahlsonntag von den 5.897 Wahlberechtigten in Oppenheim zu machen ist. Aber es ist ein Kreuzchen von großem Gewicht und außerordentlicher Tragweite. Denn mit dieser Abstimmung wird nicht nur ein Bürgermeister gewählt oder auch nicht gewählt, sondern auch der Übergang in eine neues kommunalpolitisches  Zeitalter vollzogen.

Für Oppenheim hat dies durchaus lokalhistorische Bedeutung.

Nach ereignisreichen Monaten, mit lebhaftem Bürgerengagement, mit einer bis dahin nicht gekannten offenen und mit breiter Beteiligung geführten Diskussion und mit der Premiere des offenen Bürgerprotestes an mehreren Montagen auf dem Marktplatz, ist mit dem Rücktritt von Markus Held und den folgenden Nachbeben die Ära der Selbstherrlichkeit, der Überheblichkeit und Machtanmaßung eines Stadtregenten zu Ende gegangen. Man darf hier gerne von einer kleinen, friedlichen Revolution sprechen mit einem Ergebnis, das man noch vor ein paar Monaten für unvorstellbar gehalten hatte. Zudem hat sich im Zuge der Ereignisse die Partei, die diesen Bürgermeister und schon seinen nicht minder hochmütigen Vorgänger getragen und eine beispiellose ‚Filzokratie‘ pflegte, vor Ort selbst zerlegt.

Doch genau in diesem Moment trat auch ein bis dahin aus den Augen gelassenes oder verdrängtes Problem zutage. Keine auch noch so kleine Revolution ist mit dem Ende ihrer destruktiven Phase abgeschlossen. Dem Sturz der alten Machthaber, dem Zusammenbruch des alten Systems und der alten Strukturen der Günstlingsherrschaft musste eine demokratische, rechtstreue, transparente, unbelastete Bürgervertretung und Verwaltung folgen.

Auf staatlicher Ebene hätte man in einer vergleichbaren Situation eine Regierung der nationalen Einheit gebildet, in der die verschiedenen Parteien ihre jeweils eigenen programmatischen Positionen dem gemeinsamen Ziel, nämlich der Wiederherstellung von Ordnung, Recht und Sicherheit sowie der Sicherung der staatlichen Handlungsfähigkeit, untergeordnet hätten. In Oppenheim ging das nicht, weil die SPD zerfiel, weil die AL die Flecken auf ihrer weißen Weste nach jahrelangem koalitionären Bündnis mit dem jetzt gestürzten Held nicht verbergen konnte, weil die CDU erst im Zuge des Untergangs Held von der Fahne gegangen war und weil andere politische Gruppierungen (FDP, FWG) noch nicht auf der Bühne waren.

In der Folge kam es zu der bekannten merkwürdigen Übergangslösung mit einem verschollenen Ersten Beigeordneten und einem an dessen Stelle tretenden Zweiten Beigeordneten, der sich stellvertretender Bürgermeister nennen durfte, ohne dafür ein Mandat der Bürger und auch nicht die geringster Aussicht darauf zu haben. Schlimmer noch: Ein engster Getreuer des gestürzten Held, der noch wenige Wochen zuvor verkündete, eine virtuelle Gegendemonstration gegen den Bürgerprotest auf dem Marktplatz anführen zu wollen, saß nun selbst auf dem Chefsessel.

Doch ein Ende dieser höchst unbefriedigten Übergangssituation zeichnet sich jetzt ab. Auch wenn die Konstellation der Wahl am Sonntag mit nur einem Kandidaten kein ideales Szenario darstellt, die Auswahl zwischen Ja, Nein und Enthaltung macht sie dennoch zu einer demokratisch einwandfreien. Dabei ist die Wahl von Walter Jertz durchaus nicht alternativlos. Niemand, der ihm seine Stimme versagt, hat ein „nihilistisches Demokratieverständnis“, wie ein lokaler Redakteur kürzlich phantasierte.

Nicht wählen oder mit Nein abstimmen zu können, ist schlicht ein Ausdruck von Freiheit. Wer sein demokratisches Recht wahrnimmt und sich enthält oder mit Nein stimmt, der muss sich als Bürger aber schon fragen lassen, ob er den von der breiten Bürgermehrheit nicht gewollten Übergangszustand bis zur nächsten Kommunalwahl festschreiben oder die  Stadt unter Zwangsverwaltung gestellt sehen möchte. Denn das wären die Alternativen.

Nach dem Abflauen der revolutionären Stimmung hat sich in den letzten Wochen in Oppenheim die Sehnsucht nach innerem Frieden, nach Harmonie, nach Ordnung, Ruhe und Beschaulichkeit ausgebreitet. Dass dieses Gefühl vorherrscht, ist nach den Monaten spektakulärer Ereignisse, sich überschlagender Neuigkeiten, unerwarteter Umbrüche und Abstürze, die einerseits Zufriedenheit, Freude und Hoffnung, andererseits aber auch Entsetzen, Enttäuschung und Orientierungsverlust auslösten, nur zu verständlich. Seriöserweise muss allerdings die spannende Frage gestellt werden, ob sich derzeit in Oppenheim ein echter politischer Neuanfang abzeichnet, der verspricht, die Stadt wieder in die ruhigen Fahrwasser der Normalität zu führen, die Verfehlungen der Vergangenheit und die daraus entstandenen Schäden aufzuarbeiten, zu ahnden und wiedergutzumachen und die Stadt zu neuer Blüte zu führen.

Bürgerforen und ein gewählter Bürgermeister allein können nicht die konstruktive Fortsetzung des Bürgerprotestes sein, der sich montags auf dem Marktplatz artikulierte. Konstruktiv ist einzig und allein die Wiederherstellung handlungs- und entscheidungsfähiger kommunalpolitischer Strukturen in der Stadt. Das aber kann ein Bürgerforum und ein Bürgermeister allein gar nicht leisten. Dazu braucht es Bürger, die Verantwortung übernehmen, sich in Parteien und/oder Wählergruppen zusammentun, sich zur Wahl stellen, um dann als Bürgervertreter im Stadtrat Beschlüsse zu fassen und zusammen mit der Stadtführung umzusetzen.

Welche Positionen nehmen jetzt die Parteien ein? Auf welchen Feldern gibt es Aussicht auf Kooperation? Kooperation der demokratischen Kräfte in den nächste Monaten bis zur Kommunalwahl ist nämlich dringend geboten, um völlige Konformität von Politik und Verwaltung mit Recht und Gesetz wiederherzustellen.

Wenn dagegen die Parteien beabsichtigen,  die nächsten Monate zu nutzen, um sich im Hinblick auf den nächsten Wahltermin zu profilieren und das Gemeinsame dem eigenen Vorteil unter zu ordnen, dann sieht es ganz düster aus um Oppenheim. Wenn sie aber jeweils gute Ideen, konstruktive Vorschläge, nützliche Pläne in einen gemeinsamen Pool einbringen und dann gemeinsam Entscheidungen zum Nutzen von Stadt und Bürgern treffen, dann besteht Hoffnung. Wenn sie den politischen Wettbewerb in den nächsten Monaten zu einem Wettbewerb um die besten Lösungsvorschläge statt zu einem Schlagabtausch mit Phrasen und Parolen gestalten, dann wird aus der Hoffnung eine echte Chance.

Zu den Grundvoraussetzungen wird gehören müssen, denen, die Held nicht nur kritiklos gefolgt, sondern dessen als rechtswidrig bezeichneten Handlungen mitgetragen und davon profitiert haben, die Held noch verteidigt haben, als die Last der Indizien gegen ihn schon erdrückend war und die Kritiker beschimpft und diskreditiert haben, klar zu machen, dass sie in der Oppenheimer Politik nicht mehr mitwirken können. Namentlich gilt das vor allem für Frau Kloos, Herrn Sittig, Herrn Bodderas, Herrn Meidinger, Frau Bunk und natürlich Herrn Krethe.

Und der designierte Stadtbürgermeister? Wenn Herr Jertz am Sonntag (hoffentlich) gewählt wird, muss auch er über das Allgemeine und Unverbindliche von Wahlprospekten hinaus sehr konkret und sehr verbindlich werden. An seinem ersten Tag im Rathaus sollte der ehemalige General die Rolle des Kompaniefeldwebels übernehmen und einen „Stubendurchgang“ durchführen. Wer je beim ‚Bund‘ war, weiß, was gemeint ist:

Wo im Rathaus gibt es Dreckecken? Wo gilt es, noch bestehende Reste des Heldschen Netzwerks aufzuspüren und zu beseitigen? Wie kann die Sicherung von zwingend zu überprüfenden Akten gewährleistet werden? Was ist mit den Privatunternehmen mit Sitz im Rathaus?  Mit welchen unbelasteten und verlässlichen Personen kann der Bürgermeister sich die Führungsaufgabe teilen? Wie können die an Kooperation interessierten Fraktionen eingebunden werden?

Und dann stehen natürlich die drängenden, aber sicher nicht in wenigen Wochen und Monaten lösbaren, Sachthemen an: Wie kann möglichst rasch die Verschuldungsproblematik gelöst und die Einnahmesituation verbessert werden, auch durch Schadensersatz und Rückforderungen? Wie kann im Zusammenwirken mit der Verbandsgemeinde, dem Landesrechnungshof und der Kommunalaufsicht insoweit Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit für die Stadt hergestellt werden, dass sie sich eine wirkliche Perspektive schaffen kann?

Wie kann, wenn Konsens darüber besteht, dass die Altstadt nicht mehr Einkaufsstadt werden wird, mit bestehenden und zu erschließenden Möglichkeiten die touristische Anziehungskraft verbessert werden? Mit welchen Mitteln kann das Interesse von Investoren geweckt werden, damit die Leerstände in der Altstadt und im Gewerbegebiet zügig gefüllt werden?

Der Aufgabenberg hat gewaltige Ausmaße. Mit seiner Kandidatur zur Wahl des Oppenheimer Stadtbürgermeisters hat Walter Jertz die Bereitschaft bekundet, diesen Aufgabenberg zu seinem zu machen und ihn zusammen mit engagierten Bürgen nach und nach abzutragen. Dafür verdient er nicht nur Dank und Anerkennung, sondern auch den kräftigen Anschub durch einen überwältigenden Vertrauensvorschuss, den ein sehr gutes Wahlergebnis für ihn am Sonntag bedeuten würde.

Er verdient darüber hinaus aber auch die tatkräftige Unterstützung, die maßgebliche politische Gruppierungen ausdrücklich zugesichert haben, nicht nur vor, sondern vor allem nach der Wahl. Denn um seine vielen Reparatur- und Reformvorhaben umsetzen zu können, wird er Mehrheiten im Stadtrat brauchen.

Die Bürger werden sehr genau beobachten, wer in den nächsten Monaten im Stadtrat parteipolitische Partikularinteressen verfolgt und wer den von Walter Jertz eingeschlagenen neuen Weg mitgehen wird.

Zum Autor:

Der Schriftsteller Frieder Zimmermann (63) lebt seit 1981 in Oppenheim. Er ist verheiratet, hat vier erwachsene Kinder und drei Enkel. Drei Rheinhessen-Krimis sind bisher von ihm erschienen: „Weinbergsfallen“, „Kasernenmord“ und „Windradmafia“.

Die besondere Leidenschaft Zimmermanns gehört der Geschichte im Allgemeinen und der Geschichte seiner Heimatregion Rheinhessen sowie seiner Heimatstadt Oppenheim. In „Nicht nur Luther war hier“ veröffentlichte der examinierte Historiker  eine Sammlung von Kurzgeschichten um geschichtsträchtige Persönlichkeiten und ihre Zeit in Oppenheim. Der Autor spannt dabei einen Bogen vom Jahr 1410 bis 1945 und lässt mit einer Mischung aus historisch belegten Geschehnissen und literarischer Fiktion den Leser in verschiedene Epochen der Zeitgeschichte blicken.

2 Kommentare zu „Ein Kreuzchen von außerordentlicher Tragweite“

  1. Dr. Volkhart Rudert

    Eine treffende Zusammenfassung: ja, ich war bei der Bundeswehr und weiß, was ein Stubendurchgang bedeutet und hier in Oppenheim heißt es im Rathaus vor allen Dingen mit eisernem Besen auskehren, ausmisten, den Mulch radikal entfernen, damit wirklich Neues ans Licht gelangt, ans Licht eines transpareten Zusammenlebens.

  2. Andreas Löffelholz

    Großartig, lieber Frieder Zimmermann, äußerst zutreffend (mal wieder) auf den Punkt gebracht!
    Danke!

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