Das ist natürlich ein Schock: Jetzt gibt’s auch im Rathaus Oppenheim ein Leak! Hinter verschlossenen Türen hat Stadtbürgermeister Marcus Held am 7. Juni dieses Jahres vor dem Stadtrat indirekt eingestanden, dass er Millionen am Parlament vorbei ausgegeben habe. Er brachte das Thema erst zur Sprache, als die Öffentlichkeit von der Sitzung ausgeschlossen worden war: Die Menschen in Oppenheim sollten wohl nichts von seinem Fehlverhalten erfahren. Denn was in nicht-öffentlicher Ratssitzung besprochen wird, gilt als streng vertraulich. Das dringt normalerweise nicht nach draußen, das darf auf keinen Fall verraten werden, niemals!
Doch genau das ist passiert: Die Mauer des Schweigens, die Held schützen sollte, stürzte in sich zusammen. Schlimmer noch: Die gedruckten Unterlagen, die der Stadtbürgermeister in der Geheim-Sitzung verteilt hatte und die ebenfalls kein Außenstehender je zu Gesicht bekommen sollte, sind jetzt ebenfalls an die Öffentlichkeit gelangt. Die Dokumente kursieren in der Stadt, sie werden immer wieder kopiert, und sie werden weitergereicht als neue Nachweise für die diversen Fehltritte des Stadtoberhaupts.
Niemand kann sagen, wie das geschehen konnte. Keiner weiß, wer dahinter steckt. Fest steht nur: Es gibt ein Loch im Rathaus. Das macht nervös!
Alles ganz geheim. Und alles kommt heraus
Erst vor wenigen Wochen waren die SPD-Mitglieder in Oppenheim und in der Verbandsgemeinde Rhein-Selz aufgeschreckt worden, selbst in Mainz und im fernen Berlin vernahm man verstört ein unheimliches Donnergrollen aus dem rheinhessischen Städtchen: Ein Dossier mit vertraulichen Papieren aus der Verbandsgemeinde-Verwaltung war von anonymen Autoren zusammengestellt und breitflächig verteilt worden. Der Inhalt: explosive Vorwürfe gegen den SPD-Bundestagsabgeordneten und Oppenheimer Stadtbürgermeister Marcus Held, säuberlich belegt mit diversen Behörden-Dokumenten.
Der „Oppenheim-Skandal“, der auf diesen Webseiten dokumentiert wird, erregt seither die Menschen weit über die Stadt hinaus. Die verantwortlichen SPD-Oberen ergaben sich erst in selbstmitleidigen Klagen (Held: „Jemand will mich zerstören“), dann versuchten sie eine neue Verteidigungsstrategie: Seither ist nur noch von „VG Leaks“ die Rede. Die lokale Zeitung schrieb prompt von einem GAU und auch von einem politischen Erdbeben: Gemeint war nicht die dubios anmutende Umtriebigkeit des Stadtbürgermeisters. Sondern der Umstand, dass dessen Treiben bekannt gemacht geworden war: „Straftäter“ seien das, die in einer vermutlich parteipolitisch gesteuerten Kampagne und mit „mit krimineller Energie“ gegen Marcus Held agieren würden!
Und jetzt haben sie in der Kleinstadt auch noch das brisante „Rathaus Leaks“ dazu! Oppenheim, so scheint’s, bleibt weiter sturmumtost. Die neuen Papiere sind deshalb so aufrüttelnd, weil sie in schonungsloser Direktheit das grenzwertige Handeln eines Lokalpolitikers aufdecken, der die Menschen seiner Region ja auch im Bundestag, dem höchsten deutschen Parlament, vertritt, und von dem man deshalb ein stets sachgerechtes Handeln und auch ein ausgeprägtes Rechtsbewusstsein erwartet hatte.
"Unverzügliche" Information nach drei Jahren
Schauen wir uns genauer an, was in der geheimen Sitzung des Stadtrats auf den Tisch kam:
Der erste Stapel der Papiere trägt die Vorlagen-Nummer 049/2017/0027, er wurde von Marcus Held lediglich zur Information der Ratsmitglieder verteilt: „Bekanntgabe von Eilentscheidungen gem. §48, Satz 2, GemO; hier: Nachholung der Bekanntgabe“, lautet die Überschrift. Etwas konkreter heißt es darunter: „Zur Heilung eines möglichen formellen Fehlers hinsichtlich der Vorschrift des § 48, Satz 2, GemO wird die Bekanntgabe der Eilentscheidungen vom 31.07.2014, 07.08.2014, 13.10.2014 und 10.11.2014 hiermit nachgeholt.“
Das müssen wir uns etwas genauer anschauen, die Papiere liegen uns zum Glück vollumfänglich vor:
Vor drei Jahren, am 31.Juli 2014, hatte Marcus Held mit Eilentscheid Nr. 1 die Auszahlung von 1,416 Millionen Euro genehmigt. Unterzeichnet hatten, wie vorgeschrieben, neben dem Stadtbürgermeister die drei Beigeordneten Hansjürgen Bodderas (SPD), Helmut Krethe (einst CDU) und Frieder Reichert (SPD, Ende 2016 verstorben). Von den 1,4 Millionen Euro kaufte Held Grundstücke in Krämereck-Süd, die ihm das Maklerbüro „G-A-J GmbH“ angeboten hatte. Über den merkwürdigen Makler-Deal haben wir an anderer Stelle berichtet: Marcus Held zahlte aus der Stadtkasse insgesamt fast 200.000 Euro Courtage an das Maklerbüro, obwohl ein städtischer Auftrag an das Maklerbüro nicht vorlag, sondern es allenfalls von den Grundstücksverkäufern beauftragt worden war (mehr hier).
Knapp eine Woche nach diesem 1,4-Millionen-Geschäft legte Held seinen Beigeordneten Eilentscheid Nr. 2 vor: 162.000 Euro wollte er „für überplanmäßige Ausgaben“ haben, wieder musste es ganz schnell gehen. Seine ihm treu ergebenen Rathaus-Mitarbeiter unterschrieben, das Geld floss.
Eilentscheid Nr.3 folgte am 13. Oktober 2014: Held benötigte weitere 409.137,50 Euro für den Ankauf von „durch die Firma GAJ GmbH angebotene Grundstücke“. Es gab allerdings ein kleines Problem: Bodderas und Krethe, deren Unterschriften zwingend verlangt wurden, befanden sich in Urlaub. Held bekam das Geld trotzdem; in einem Schreiben an den Rechnungshof, das dem Autor dieser Webseite ebenfalls vorliegt, gab er an: „Das Einvernehmen mit den sich im Urlaub befindlichen Beigeordneten wurde in der Form hergestellt, dass der Stadtbürgermeister die Beigeordneten im Urlaub angerufen hat und diese um mündliche Zustimmung bat.“
Eilentscheid Nr. 4 datiert vom 10. November 2014, diesmal mussten 1,05 Million Euro her. In Oppenheim wohl kein Problem: Vier Unterschriften – schon war die Sache geklärt.
Geklärt? Von wegen! Zwei Dinge muss man wissen: Eilentscheidungen sind außergewöhnliche Vorgänge. Denn mit ihnen werden normale und gesetzlich vorgeschriebene Entscheidungswege verlassen, das Parlament wird schlicht umgangen. Das soll nur in seltenen und gut zu begründenden Ausnahmen geschehen; Serien-Eilentscheidungen, wie Marcus Held sie traf, sind eher ungewöhnlich.
Und dann ist auch vorgeschrieben: Über Eilentscheidungen müssen die Parlamentarier umgehend informiert werden. In der geheimen Sitzung des Stadtrats bezog sich Held denn auch ausdrücklich auf Paragraf 48 der Gemeindeordnung (GemO), der dieses regelt. Schauen wir uns die Vorschrift etwas genauer an, sie lautet:
Der Bürgermeister kann in Angelegenheiten, deren Erledigung nicht ohne Nachteil für die Gemeinde bis zu einer Sitzung des Gemeinderats oder des zuständigen Ausschusses aufgeschoben werden kann, im Benehmen mit den Beigeordneten anstelle des Gemeinderats oder des Ausschusses entscheiden. Die Gründe für die Eilentscheidung und die Art der Erledigung sind den Ratsmitgliedern oder den Mitgliedern des zuständigen Ausschusses unverzüglich mitzuteilen. Der Gemeinderat oder der zuständige Ausschuß kann in seiner nächsten Sitzung die Eilentscheidung des Bürgermeisters aufheben, soweit nicht bereits Rechte Dritter entstanden sind.
Das zentrale Wort im zweiten Satz haben wir unterstrichen: „unverzüglich“.
„Unverzüglich“ ist ein juristischer Terminus technicus, er bedeutet „ohne schuldhaftes Zögern“. Die vorgeschriebene unverzügliche Information ist nicht etwa lästige Förmelei. Nein, sie soll einem Stadtrat die Möglichkeit geben, eine Eilentscheidung in seiner nächsten Sitzung wieder aufzuheben.
Altes Protokoll lässt tief blicken
Bei Marcus Held aber hat’s drei Jahre gedauert, bis er den Stadtrat informierte. Die anonymen Autoren des Dossiers hatten aufgedeckt, dass er am Stadtrat vorbei Hunderttausende (nach Lesart des Rechnungshofs in dessen Zwischenbericht: sogar Millionen) ohne Autorisierung durch den Stadtrat ausgegeben hatte. Öffentlich warf Held den Autoren „kriminelle Energie“ vor – im nichtöffentlichen Teil der Stadtratssitzung reichte er jetzt die Information nach. „Natürlich war das eine Farce! So wird unser Stadtrat regelrecht vera…“, sagt ein Oppenheimer Lokalpolitiker, der seinen Namen „auf keinen Fall“ gedruckt sehen will. „Aber was sollten wir schon machen?“
Marcus Held begründete die Fülle seiner Eilentscheide damals wie heute mit demselben Satz: „Ein Nachteil der Stadt bei Nichtankauf ist dadurch gegeben, dass andere Interessenten an den Grundstücken für Gewerbeflächen interessiert sind.“ Kann ein solch lapidarer Grund, dazu noch in Serie, wirklich ausreichend sein, die Rechte der gewählten Bürgervertreter auszuhebeln?
Das abgehobene Selbstverständnis des Stadtbürgermeisters und seine oftmals missachtende Haltung gegenüber legitimierten Volksvertretern findet sich im Protokoll der Stadtratssitzung vom 14. September 2014 wieder. Hier hätte Held, spätestens, einen Teil seiner Eilentscheide vortragen müssen, was er aber bekanntlich nicht tat. Man diskutierte damals über den kommunalen Haushalt, über die zunehmenden Kredite der Stadt und über ihren wachsenden Schuldenberg, und dazu heißt es an einer Stelle im Protokoll, dass der AL-Abgeordnete Raimund Darmstadt „die seiner Meinung nach besorgniserregende Gesamtverschuldung der Stadt und die Aufnahme neuer Kredite“ angeprangert habe.
Im Protokoll ist auch die Reaktion von Marcus Held nachzulesen: „Der Vorsitzende hätte sich zu diesem wichtigen Thema von Seiten der AL mehr Sachlichkeit und Verantwortungsbewusstsein zum Wohle der Stadt und ihrer Bürgerinnen und Bürger gewünscht.“
Das sagte ausgerechnet ein Stadtbürgermeister, der gerade mit mehreren Eilentscheidungen viel Geld ausgegeben hatte, am Stadtrat vorbei, also widerrechtlich.
Eine späte Beichte des Stadtbürgermeisters
Gehen wir an dieser Stelle noch einmal zurück in die nicht-öffentliche Sitzung des Stadtrates vom 7. Juni dieses Jahres. Nach der um Jahre verspäteten Information über längst ausgegebene 3,1 Millionen Euro hatte Marcus Held noch mehr zu beichten:
Vorlage 049/2017/0028: Held hatte Anfang 2014 in Krämereck-Süd ein 8088 Quadratmeter großes Grundstück angekauft, für das der Stadtrat einen Preis von 105 Euro pro Quadratmeter festgelegt hatte. Held aber zahlte dem Verkäufer 110 Euro, was einen Schaden von 40.440 Euro für die Stadt bedeutete. Jetzt, drei Jahre später, schlug er dem Stadtrat vor: „In Ergänzung des Stadtratsbeschlusses vom 11.12.2013 wird der Änderung des Grundstückskaufpreises von 105 €/qm auf 110 €/qm nachträglich zugestimmt.“
Im Oppenheimer Stadtrat hat die SPD eine satte Mehrheit, also keine Frage: Helds Vorschlag, seine Mehrausgaben nachträglich zu akzeptieren, fand mehrheitliche Zustimmung.
Es folgte die Vorlage 049/2017/0029: Marcus Held hatte der Geschäftsfrau Petra S. ein Grundstück zum absoluten Schnäppchenpreis überlassen. Für 307 Quadratmeter in Krämereck-Süd musste sie nur schlappe 5000 Euro zahlen. Der Schaden für die Stadtkasse an dieser Stelle ist exakt zu beziffern: 37.980 Euro. Auch diesen Kaufvertrag hatte Held hinterm Rücken des Parlaments unterzeichnet. Jetzt schlug er den Ratsmitgliedern vor: „Dem Inhalt des Kaufvertrages zwischen der Stadt Oppenheim und Frau Petra S. vom 17.10.2016 (…) wird nachträglich zugestimmt.“
Kein Problem in Oppenheim, die SPD regiert schließlich unangefochten, also auch hier: mehrheitliche Zustimmung.
Und schließlich Vorlage 049/2017/0030: Nach dem ganzen Trouble wollte Frau S. das Grundstück plötzlich nicht mehr haben. Also Helds Beschlussvorschlag: Die Stadt kauft es ihr wieder ab. Und wieder: mehrheitliche Zustimmung.
Helmut Krethe, früher in der CDU und exponierter Kritiker der Held-Politik, inzwischen aus der CDU ausgetreten und von Ex-Parteifreunden nur noch „Helds Kofferträger“ genannt, bezeichnete die geheimen Beschlüsse im Stadtrat als „Heilung“, was für ihn ein juristisch normaler Gang sei.
Das sehen andere ziemlich anders. Ein Verwaltungsrechtler formuliert es so: Wenn ein Ladendieb erwischt wird und gibt seine Beute zurück, kommt er natürlich trotzdem nicht ungeschoren davon. Marcus Held habe der Stadt nachweislich finanzielle Nachteile beschert. Auch wenn der Stadtrat jetzt nach dem Zwischenbericht des Rechnungshofs Eilentscheide zur Kenntnis bekommen und einzelne einsame Entscheidungen des Stadtbürgermeisters nachgenehmigt habe: Das mache die Gesetzesübertretungen des Stadtbürgermeisters nicht ungeschehen, beseitige die angerichtete Schädigung städtischen Vermögens nicht und schütze den Stadtbürgermeister nicht vor persönlichen juristischen Konsequenzen.